Tage der Begierde by Emma Mars

Tage der Begierde by Emma Mars

Autor:Emma Mars [Mars, Emma]
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Tags: Contemporary
ISBN: 9783641130664
Google: 2jJZAgAAQBAJ
Herausgeber: carl´s books
veröffentlicht: 2014-06-08T22:00:00+00:00


14

30. Mai 2010

Versetzen Sie sich nur einmal für einen Moment in ihre Lage: Ihre vor über zwanzig Jahren verstorbene Tochter erscheint Ihnen plötzlich auf dem Friedhof, wo sie begraben liegt! Ihr Geist ist unverändert, nicht von der Zeit und den Würmern angenagt, nicht einmal gealtert, im Gegenteil, er hat die gleichen anmutigen, jugendlichen Züge, an die Sie sich aus der Zeit vor ihrem Tod erinnern. Ein perfekter Geist, genauso materiell und körperlich wie das Original, der spricht und Sie verfolgt, wenn Sie vor ihm zu fliehen versuchen. Ein Geist, der alle Attribute der Lebenden besitzt. Viel mehr als eine gewöhnliche Erscheinung: eine Doppelgängerin!

»Madame Delbard … Ich würde gerne kurz mit Ihnen reden.«

Die mollige Frau im gelben Regenmantel lief auf ihren kurzen Beinen nicht sehr schnell. Bald war ich dicht genug bei ihr, um nach ihrem Arm zu greifen und sie zurückzuhalten.

»Lassen Sie mich los!«

»Sie sind doch Florence Delbard, nicht wahr?«

»Was geht Sie das an?«, blaffte sie.

Dass sie es nicht abstritt, war so gut wie eine Bestätigung.

Ein leichtes krampfhaftes Zucken erfasste sie, welches jedoch nicht stark genug war, um sie aus meinem Griff zu befreien. Jetzt, wo sie mir gegenüberstand, konnte ich sie endlich genauer betrachten. Sie und ihre Tochter – und damit auch ich – hätten nicht unterschiedlicher sein können. Sie war klein, rundlich, und ihr von geplatzten Äderchen gerötetes Gesicht wirkte fast wie ein ovaler Rugbyball, als wäre es auf beiden Seiten platt gedrückt worden. Ihr störrisches blondes Haar krönte das Ganze mit einer nicht sehr vorteilhaften Topffrisur, die ihre ohnehin schon aufgedunsenen Züge noch voller wirken ließ.

»Sie wissen nicht, wer ich bin … Aber Sie wissen, wem ich ähnlich sehe, nicht wahr?«

Davon überzeugt, dass ihre Neugier mittlerweile größer war als ihre Angst und sie nun nicht mehr versuchen würde, vor mir zu fliehen, lockerte ich den Griff meiner Hand. Tatsächlich traf ich mit meiner provokanten Frage ins Schwarze, doch sie gab keinen Ton von sich und starrte mich lediglich verblüfft an.

»Aurore ist tot«, stammelte sie schließlich, wie um sich selbst zu überzeugen.

»Das weiß ich. Und ich bin nicht hier, um Sie zu erschrecken …«

»Was wollen Sie dann? Wer sind Sie?«

Sie blieb auf der Hut, aber ich erkannte, dass ich die erste Schranke ihres Misstrauens überwunden hatte. Wenn ich nicht wollte, dass sie gleich wieder verschwand, musste ich unser Gespräch so schnell wie möglich auf vertrautes Terrain lenken und ein paar Bezugspunkte nennen, an die sie sich klammern konnte.

»Ich heiße Annabelle. Annabelle Lorand. Ich habe vor etwas mehr als einem Jahr die Brüder Barlet kennengelernt. Nun ja, sagen wir eher, sie haben mich gefunden. Ich denke, Sie verstehen, wieso …«

Obwohl sie weiter stumm blieb, signalisierten ihre ungläubig flatternden Augenlider Zustimmung.

»Fast hätte ich David geheiratet. Und jetzt bin ich kurz davor, Louis das Jawort zu geben. Aber vorher … Vorher würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Es wird nicht lange dauern. Versprochen.«

Ihr Blick glitt über die benachbarten Friedhofswege, als würde sich unvermittelt irgendwo ein magischer Ausgang auftun, in den sie hineinspringen und sich so meinem Zugriff entziehen könnte, genauso unerreichbar wie Alices Kaninchen.



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